Übrigens...
Anumeriker sind schlimmer als Analphabeten!

von Rainer Janßen Gary-Larson-Comic 2

Ein Wirtschaftspolitiker wurde einmal gefragt, wie viele Nullen eine Milliarde hat. Er gab drei Schätzungen ab, aber alle drei waren falsch! - Ich kann nicht beweisen, daß es eine wahre Geschichte ist, aber bisher hat sie noch niemand angezweifelt, dem ich sie erzählte, d. h. sie scheint doch sehr wahrscheinlich.

In den Medien wird immer wieder über die Problematik des Analphabetismus berichtet. Trotz allgemeiner Schulpflicht und zunehmender Anzahl von Schülern auf weiterführenden Schulen, scheint nämlich selbst in den hochentwickelten Industrieländern der Prozentsatz der Bevölkerung, der nicht oder kaum lesen und schreiben kann, eher zu- als abzunehmen. Neben vielfältigen und vielschichtigen sozialen Gründen wird hierbei natürlich auch die neue Medienlandschaft als Verursacher angeführt. Die Menschen lesen nicht mehr, sondern sehen fern, spielen Computerspiele, ziehen sich ein Video nach dem anderen rein, konsumieren nur noch Bildinformation, statt Texte lesend zu erfassen usw. Dem Internet kommt hier sogar ausnahmsweise mal eine positive Rolle zu, denn Mails und Chat-Room zwingen die Kids wieder dazu, Text einzugeben und schriftlich zu kommunizieren.
Durch neue Technologien wie z. B. Spracherkennung, Spracherzeugung, Schrifterkennung wird die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, bald weniger kritisch sein. Man kann Bücher einscannen und sich vorlesen lassen, man kann Text einsprechen und Tippfehler gibt es dank Rechtschreibprüfung auch nicht mehr, sogar das Lesen von Verkehrsschildern - dank Navigationssystem - oder von Sonderangeboten im Supermarkt - dank Barcodesprecher - wird bald überflüssig. Die Analphabeten können also hoffen: Lösungen oder zumindest mächtige Hilfsmittel sind entstanden und werden immer perfekter.
In der gesellschaftlichen Diskussion über den Analphabetismus wird allerdings oft übersehen, daß es daneben auch noch eine wachsende Gruppe von Menschen gibt, die mit Zahlen nicht umgehen, nicht rechnen können und bei der kleinsten mathematischen Aufgabe versagen. Ich nenne diese Menschen in Ermangelung eines passenderen Begriffs "Anumeriker".
Anumeriker gab es natürlich schon immer. Ich erinnere mich noch gerne an den großen Lacherfolg, den ein Mitschüler in der Oberstufe erzielte: er hatte in einer Klassenarbeit ,,4 x 4" mit dem Rechenschieber ausgerechnet! Das Ergebnis von 15,98 hatte er brav und genau notiert und dann für die weitere Rechnung auf 16 aufgerundet. Aber im Großen und Ganzen wurde man früher doch intensiver von der Schule über die Berufsausbildung bis zur täglichen Anforderung im Beruf im Kopfrechnen trainiert und gefordert. Man mußte einfach nicht nur das kleine, sondern auch das große Einmaleins wirklich beherrschen, sonst kam man im Alltag nicht klar .
Nun werden Sie vielleicht denken: "Wo ist denn das Problem? Wir haben doch alle Taschenrechner, jetzt sogar schon im Handy eingebaut?" Leider ist es aber nicht so einfach, denn man müßte mindestens soviel Zahlenverständnis haben, daß man merken würde, wenn einem falsche Rechenergebnisse präsentiert werden und man den Taschenrechner zur Überprüfung nutzen sollte. Aber in schöner Regelmäßigkeit findet man in den Medien offenkundig falsche Zahlen, und keiner merkt es! Und dies weist auf einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen Analphabeten und Anumerikern hin: während man in den Führungseliten (Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft) doch relativ wenige Analphabeten findet, sind die Anumeriker auch in diesen Gruppen durchaus zahlreich vertreten!
Es wundert mich schon lange nicht mehr, wenn mir ein Gesprächspartner - nachdem ich mich als Mathematiker geoutet habe - gesteht: "In Mathe war ich schon immer schlecht!" Allerdings habe ich mittlerweile gelernt, daß dieser Mensch dann nicht nur Probleme mit quadratischen Gleichungen, Kurvendiskussion oder partieller Integration hatte! In den meisten Fällen handelt es sich dann um einen mehr oder minder schweren Fall von Anumerik! Diese Menschen können nicht nur nicht rechnen, sondern sie können vor allem aus Zahlen keine zulässigen oder gar korrekten Schlüsse ziehen!
Man muß sich nur einmal eine beliebige politische Talkshow ansehen. Es tritt immer wieder zutage, daß die meisten Diskutanten die Grundbegriffe der elementaren Logik (Unterscheidung hinreichende/notwendige Bedingung, Schluß, Beweis, Vermutung, Annahme, Behauptung etc.) nicht verstanden haben. Zwar ist oft auch aus politischen Motiven gar nicht die Absicht vorhanden, logisch sauber zu argumentieren, in der Regel fehlt aber auch die Fähigkeit dazu. Dies führt zu entsprechenden irrationalen Aufwallungen in den Medien und der Bevölkerung und zu unnötigen sozialen Verwerfungen.
Gegenstand solcher Diskussionsrunden - und aller anderen Stammtische - sind oft nichtlineare Phänomene in hochdimensionalen Räumen. Dabei wird z. B. von exponentiellem Wachstum geredet, ohne dieses Phänomen zu verstehen. Und mit größtem Selbstbewußtsein werden Prognosen verkündet, was die Änderung einzelner Parameter bewirkt (z. B. Steuersatz), ohne irgendeine Vorstellung zu haben, wie schwierig bis unmöglich die Prognose in solchen Systemen ist.
Oder stellen Sie sich eine Diskussion über das Thema Chancengleichheit vor! Wenn Bevölkerungsgruppe A im Mittel nur geringfügig kleiner ist als Bevölkerungsgruppe B, wird man - eine Eigenschaft der Normalverteilung - unter den "Riesen" überwiegend Vertreter aus B finden. Diesen Effekt muß man verstehen, wenn man über Chancengleichheit in einer multikulturellen Gesellschaft redet - besonders dann, wenn es nicht um körperliche Merkmale und Chancengleichheit im Spitzensport geht, sondern um Ausbildung, berufliche Weiterbildung etc.
Aber es fängt natürlich schon bei viel einfacheren Dingen an. Ob in der Politik oder in der Wirtschaft, immer versucht man, seine Entscheidungen durch Daten, Meinungsumfragen, Kundenbefragungen usw. zu begründen. Aber was nützen denn Fakten, Fakten, Fakten, wenn man keine Ahnung von Statistik, Datenanalyse und damit der Interpretation von Fakten hat?! Diese Inkompetenz wird dann meist abgetan mit den lässig hingeworfenen Sprüchen "There are lies, damned lies, and statistics" oder "Ich traue nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe". Fälschung und Lüge setzt allerdings die Kenntnis der Wahrheit voraus! Tatsächlich gibt es natürlich Daten-Manipulateure, die z. B. durch die Wahl der grafischen Darstellung oder schon vorher bei der Erzeugung der Fakten durch die Formulierung einer Frage(in einer Meinungsumfrage), ein vorbestimmtes, gewünschtes Ergebnis erzeugen können, aber viel häufiger und gefährlicher sind doch diejenigen, die nicht wissen, was sie tun!
Die Anumeriker sind eine wachsende Bedrohung, und in Deutschland sind wir sogar noch stärker bedroht als im Rest der Welt. In internationalen Vergleichsstudien der mathematischen Fähigkeiten schneiden deutsche Schüler erschreckend schwach ab und liegen deutlich abgeschlagen bestenfalls im hinteren Mittelfeld. Und jeder Professor aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften kann ein Klagelied singen von der immer stärker abnehmenden Zahl der Erstsemester, die bis zum Abitur einen Leistungskurs in Mathematik gemacht haben und wenigstens einigermaßen studierfähig sind. Aber solange es sogar noch schick ist, zu gestehen, daß man "in Mathe schon immer schlecht war", wird sich wohl nicht viel ändern. Mich erstaunt diese Haltung immer wieder! Im Gegensatz zu den Anumerikern haben Analphabeten meist große Hemmungen, ihre Schwäche einzugestehen: sie schämen sich geradezu und fühlen sich oft sozial ausgegrenzt, tun alles, um ihre Schwäche zu verstecken. Niemand würde einen Minister oder einen Vorstand akzeptieren, der gesteht, das Alphabet zwar einmal gelernt zu haben, auch ein Buch zu besitzen, aber doch seit seiner Schulzeit kein Buch mehr gelesen zu haben -und meist Schwierigkeiten zu haben, längere Schachtelsätze mit schwierigen Konstrukten wie Konjunktiv und doppelte Verneinung richtig zu erfassen. Aber anscheinend bereitet es vielen kein Problem, wenn eine Führungskraft, ob in der Politik oder in der Wirtschaft, milliardenschwere Entscheidungen trifft, obwohl sie zu Zahlen keine rechte Beziehung hat, über die Grundrechenarten nie hinausgekommen ist, schon bei der Prozentrechnung große Probleme hat und mit der Analyse größerer Zahlenwerke noch nie zu Rande gekommen ist. Wähler oder Aktionäre sollten sich dann allerdings nicht wundern, wenn dann auch einmal der praktische Nachweis erbracht wird, daß man nicht nur schlecht in Mathe war, sondern es immer noch ist!
Im Fernsehquiz stellt der Quizmaster dem verbleibenden Kandidaten zum Schluß die 100.000 DM-Frage: "Wie viel ist 7 x 5?" Der Kandidat antwortet: ,,32".Und das Publikum ruft: "Gib ihm noch 'ne Chance!". Auch der zweite Versuch mit 38 geht schief, aber der Quizmaster gibt dem Drängen des Publikums nach und gibt dem Kandidaten noch eine nun wirklich allerletzte Chance. Nach langem Nachdenken sagt er: ,,35". Und das Publikum ruft: "Gib ihm noch 'ne Chance!"; - Ist das ein Witz oder Realsatire? Können Sie darüber lachen? Oder suchen Sie noch nach Ihrem Taschenrechner?

(Quelle: DMV-Mitteilungen 2-2000)